Das Rad der Zeit lässt sich bekanntlich schwerlich zurückdrehen. Oftmals ertappe ich mich aber dabei und ringe mich dann zu dem Geständnis durch, dass ich so einiges aus frühester Jugend vermisse.
Besonders dann, wenn regnerische Herbsttage und lange Winterabende dem Tagesablauf ihren Stempel aufdrückten.

Erzählungen, Geschichten, Legenden

Dann werden Erinnerungen an die Kinder- und Jugendzeit geweckt, wenn sich die Familie um den wärmenden Herd in der Küche scharte, dessen Herdplatte in einem sanften Rot glühte und einen vollkommenen Kontrast zum durch die Fenster scheinenden Vollmond abgab.

Es war die Zeit an dem Großvater bei schwachem Licht Geschichten erzählte, die an Sagen, an Legenden erinnerten. Seine Geschichten hatte er von seinem Vater, der wiederum von den Großeltern als Erzähler übernommen. Bei einer solchen Erzähl Girlande erscheint es plausibel, dass schwer glaubhafte und zweifelhafte Erzählungen dem jeweiligen Erzähler ohne Zweifel abgenommen wurden, da diese als äußerst respektierte Bezugspersonen uneingeschränktes Vertrauen genossen.

Atemlos lauschten wir. Wie konnte er erzählen. Seine Augen rollten, das Spiel der Hände, ja sein faltenreiches Gesicht, alles war in die Erzählungen, die Geschichten mit eingebunden.
Wir klebten förmlich an seinen Lippen, lauschten wie Bienen. Bei der Erzählkunst strahlte er Würde aus. Er hatte noch immer die sanften braunen Augen, sie funkelten wohl nicht mehr so schelmisch wie noch wenige Jahre zuvor.

Doch nicht nur er war ein Meister der Erzählkunst. Nein, es waren viele Erzähler damals „unterwegs“, die die vortreffliche Wiedergabe von Geschichten, Legenden und Sagen beherrschten.

Trafen sich an manchen Abenden mehrere Erzähler, die uns Zuhörer in ihren Bann schlugen,
dann gab es für ihren Einfallsreichtum keine Grenzen. Dann „spielten“ sie genüsslich mit der Zuhörerschaft, mit Geschichten, die sie von ihren Vorfahren übernommen hatten, denn ihnen war es in ihrer Kindheit nicht anders ergangen wie mir und meinen Geschwistern an solchen Erzählabenden. Wenn die Dramatik der Geschichten spielerisch immer mehr gesteigert wurde, was im Ermessen des jeweiligen Erzählers lag, dann ging bei uns Kindern die Angst um, das Haus zu verlassen. Und schaute man aus dem Fenster auf wirbelnde Schneeflocken und wenn Mutter dann noch von außen die offenen Fensterläden zuknallte, dann war ein Zittern wie Espenlaub zu verspüren. Es konnte eine Stimmung ergeben, als würde sich eine große dunkle Wolke vor die Sonne schieben und ein furchtbares Zwielicht erzeugen. Doch der Erzähler wusste dann Rat und besänftigte, dass jede schwarze Wolke eine dem Himmel zugewandte Sonnenseite habe. Es sei wie im richtigen Leben, wer den Kopf nicht heben würde, könne die Sterne nicht sehen.

Grenzenlose Faszination, wenn sie die wundersame Märchen- und Sagenwelt in Frische und Schönheit, in Angst und Schaudern erzählten, mit neuen Varianten anreicherten und ausschmückten. Dadurch entstand manchmal der Eindruck, dass eine bereits bekannte Geschichte über einen längeren Zeitraum an Dramatik zugenommen hatte und jeder Erzähler nach seiner Fabulierkunst sie zum Besten gab.

Wenn wir den Erzähler dezent darauf hinwiesen, war keine Verlegenheit auszumachen.
Im Gegenteil, um Erklärungen waren die Erzähler nie verlegen. Ein Ausdruck meines Großvaters ist mir in guter Erinnerung geblieben, nämlich, dass dem besten Kutscher auch schon mal die Karre umfalle und die Wahrheit sich wie das Wasser immer den richtigen Weg suchen würde.

Am Ende eines solchen Abends war unter den anwesenden Erzählern manchmal auch eine gewisse Wehmut auszumachen. Sie beklagten, dass viele Geschichten, Sagen oder Legenden, die es in Vielzahl gab, nicht mehr erzählt würden. Nicht weil es etwa an Erzählern mangele, nein, das Interesse der Zuhörerschar ließ immer mehr nach, wo doch eine gewisse Neugierde das Leben erst lebenswert mache und man dazu keinen geistigen Rollator benötige.

Gründe wurden gesucht und gefunden: „Fröde jenge se net en et Wiertshuus, do kome se ovends en nem Huus zesamme. Do wuet e Stöckche no däm andere us aale Zeck verzallt, die, die se verzällen dääte, hatten die von ihre Aale jehuert, on dääte die emme wegge verzälle. Denn wer domols en de Wirtschaft jeng, op däm dääte se met de Fengere zeje.“

„On höck ze Daach? Mir senn jo baal de Letzte, die noch jet ze verzelle wesse, wer well dann noch jett hüüre? Et es en angere Welt, mer kann et net verstonn. Ävver die jong Löck laache över die Verzällche, on och die ahl Löck wolle se net mie hüüre, se köme denne an de Uuhre eruss. Höck sen de Löck ze opjeklärt; wat se net sehn könne, datt glöve se net, em Jäjensatz zo fröher. Do dät der eene däm angere glöve, wat dä zo verzälle hat. Su däte se et wenigstens sare, ob et stemmt, do kannste och ken Hank für en et Füür läje, dann häste dich nämlich schnell verbrannt.“

Die vorstehend geschilderten Erzähl Runden gehören leider der Vergangenheit an.
Die „Alten“ hocken vor der „Glotze“, schauen sich jeden Mist an, um darüber einzuschlafen.
Indessen sind die Jugendlichen inzwischen dem Bann von Handy und Laptop verfallen.
Durch diese Entwicklung wurde die alte Erzählkunst bedauerlicherweise zu Grabe getragen.

Sie ist jedoch nicht verloren, denn vorausschauend wurde sie von vielen Autoren aufgeschrieben
und ist damit für zukünftige, interessierte Generationen erhalten geblieben.