Erzählt von Hubert Brandenburg
Nachstehend möchte ich über eine Begebenheit meines Vaters aus dem ersten Weltkrieg 1914 -1918 berichten.
Mein Vater, Bernhard Brandenburg, wurde am 29. April 1896 in Köln-Ehrenfeld geboren.
Im Alter von 18 Jahren wurde er zum Wehrdienst einberufen. Fernab der Heimat war der Standort Berlin-Köpenick. Nach abgeschlossener Ausbildung lautete der Befehl auf Kriegseinsatz. Diesmal ging die Fahrt Richtung Heimat, an die Westfront nach Frankreich.
Anfang 1918.
Der Krieg dauerte nun schon fast 4 Jahre, den er bis dahin ziemlich unbeschadet überstanden hatte. Jetzt geriet er in französische Gefangenschaft und wurde zur Zwangsarbeit in einem Steinbruch eingeteilt. Seine Aufgabe bestand darin, ein Förderband zu überwachen, damit keine Eisenteile in die Zerkleinerungsmaschine gelangen konnten, die eine Störung des Arbeitsablaufes zur Folge gehabt hätte.
Von Anbeginn dieser Arbeit beschäftigte ihn nur ein Gedanke. Wie komme ich hier raus, wie kann ich fliehen? Der Gedanke war für ihn nicht so abwegig, da der Steinbruch, in den Vogesen, nahe der Grenze zu Elsaß-Lothringen gelegen war, das zu dieser Zeit noch zu Deutschland gehörte. Elsaß-Lothringen war nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 dem Deutschen Reich angegliedert worden. Das Gebiet ging nach Ende des ersten Weltkrieges wieder an Frankreich zurück.
Die Nähe zu Deutschland war also verlockend, der Drang zu fliehen verstärkte sich. Nach langer und intensiver Planung, von der kargen Verpflegung wurde noch einiges an Brot als “Marschverpflegung“ zurückbehalten, war es soweit. Wohlvorbereitet gelang die Flucht aus dem Gefangenenlager. Drei Tage und Nächte hat er gebraucht um Elsaß-Lothringen zu erreichen. Am Tage mußte er Schutz in Wäldern suchen, in der Dunkelheit den Weg zur Grenze finden, was letztlich gelang. Bis hierhin ging der Fluchtplan also auf.
Doch äußerste Vorsicht war weiterhin geboten, da die Einwohner Lothringens nicht nur “Anhänger“ des Deutschen Kaiserreiches waren. Da er sich in seiner “abgewetzten Kleidung“ nicht von
der notleidenden Bevölkerung unterschied und auch nicht den Eindruck eines Soldaten machte, blieben ihm lästige Fragen und Verdächtigungen erspart.Nun mußte der nächste Teil des Fluchtplanes angegangen werden. So schnell wie möglich eine Eisenbahnlinie zu finden, denn eine Meldung bei Deutschen Einheiten stand nicht “zur Debatte“. Der Drang nach Hause war zu groß. Auch war auf beiden feindlichen Seiten auszumachen, dass die Menschen fast allesamt des Krieges überdrüssig waren und ein Ende herbeisehnten. Dies zeichnete sich ab, da eine groß angelegte Offensive der Deutschen Streitkräfte am 8. August 1918 bei Amiens unter größten Verlusten gescheitert war.
Das Glück blieb ihm hold. Er fand eine Bahnstrecke und nach langem Marsch einen Bahnhof, der auch Rangierzwecken diente. Unauffällig sondierte er die Lage. Ziemlich gelassen suchte er das unverfängliche Gespräch mit einem Bahnbediensteten. Wie so oft im Leben, half auch diesmal der “Genosse“ Zufall. Mein Vater war auf einen deutschen Lokführer getroffen. Er erzählte ihm von seinem Vorhaben und konnte ihn nach einiger Überzeugungsarbeit für seinen Fluchtgedanken gewinnen. Sie kamen überein, dass der Lokführer meinen Vater auf dem Güterzug, dessen Abfahrt mit Einsetzten der Dunkelheit geplant war, nach Deutschland “schmuggeln“ sollte.
Am vereinbarten Platz und zur verabredeten Zeit trafen sie sich auf dem Bahnhofsgelände. Dort stand der Güterzug. Dem Lokführer gelang es meinen Vater unbeobachtet auf die Lokomotive zu befördern. Der Heizer der Lok war noch nicht anwesend und folglich auch nicht eingeweiht.
Da sich der Lokführer bei einer etwaigen Kontrolle des Zuges nicht selbst in Gefahr bringen wollte, wies er meinem Vater einen Platz auf dem Tender der Lok zu. Auf diesen Tendern, auch Schlepptender genannt, wurden Kohle und Wasser zur Dampfgewinnung mitgeführt. Das Wasser in gesonderten Tanks. Und in einen solchen Tank “verfrachtete“ er ihn.
Hier harrte mein Vater nun in völliger Dunkelheit, bis über die Oberschenkel im Wasser stehend, der Dinge, die da kommen sollten. Der Zug setzte sich in Bewegung, die langsame Fahrt reichte für viele Gebete auf ein glückliches Ende, das sich einstellen sollte.
Von Kontrollen unbemerkt, völlig durchnässt vom schwappenden Wasser, gelangte mein Vater nach Deutschland zurück. Ein gebührender Dank galt dem Lokführer und dem völlig überraschten Heizer.
Nach wenigen Tagen erreichte mein Vater seinen Heimatort Vettweiß, wo ihn bald die gute Nachricht vom Ende des Krieges erreichte und ihm so eine lange Gefangenschaft erspart blieb, ebenso wie der Zugriff durch die deutsche “Militärmaschinerie“.