Katharina_Geuenich.jpegKatharina Geuenich

Mit Interesse habe ich die bisherigen Veröffentlichungen des HGV Vettweiß aufmerksam gelesen und mich darüber gefreut. Bei den Schilderungen über die Kriegserlebnisse kamen mir natürlich dann auch meine eigenen wieder in den Sinn und ich beschloss, darüber auch einige Zeilen zu schreiben. Mein Name ist Katharina Geuenich, geb. Gotzes, und ich bin Jahrgang 1927. Ich wurde 1927 in Gereonsweiler geboren und wohnte mit meinen beiden Schwestern und meinem Bruder zusammen.

Mein Vater bekam damals eine Arbeitsstelle in Veen, das ist ein Ortsteil der Gemeinde Alpen und liegt in der Nähe von Xanten. Da meine Eltern aber beide in einem Jahr früh gestorben sind, kam ich mit meinen Geschwistern in ein Waisenhaus nach Xanten. Vom Waisenhaus wurde ich dann mit 18 Jahren in den Haushalt einer Arztfamilie vermittelt, weil die Berufsausbildung zur Erzieherin wegen der zerbombten Schulgebäude nicht möglich war. Die Front rückte auch hier immer näher, so dass auch die Arztfamilie über eine Evakuierung ernsthaft nachdachte.

Nun war es soweit, schon drei Tage saßen wir im Keller. Rund um die Stadt fielen die Bomben und heute haben die Flieger unsere Kirche bombardiert. die Erde erzitterte und wir hatten furchtbare Angst. Schon vor Tagen war in der Scheune ein großes Loch ausgegraben und mit Stroh ausgelegt worden.
In dieses Loch wurde eine Truhe gestellt, die mit Betttüchern und Handtüchern belegt wurde. Hinzu kamen Porzellan, Besteck und vieles mehr. Wir hofften nun, dass keine Bomben mehr darauf fallen würden und wir bei unserer Heimkehr noch etwas davon hatten.

Aber wann würde das sein? Die Arztfamilie fuhr zu Verwandten in den Harz und ich ging zurück in das Waisenhaus. Als ich im Waisenhaus ankam, waren wir mit 16 Kindern und neun Schwestern. Es wurden Koffer und Taschen gepackt, wir konnten aber nur das Nötigste mitnehmen. Gott sei Dank hatten wir einen Handwagen, der mit Geschirr und Bettzeug voll bepackt wurde. Der Proviant, so viel wir hatten, wurde in Kissenbezüge gestopft und rundherum am Handwagen befestigt. Am späten Nachmittag ging es dann los. Auch wir starteten also in Richtung Thüringen.

Unterwegs stellten wir uns immer wieder die Frage, was mag mit unserem Haus und allen Gegenständen darin passieren? So manche Träne wurde abgewischt. Es war ein trauriger Abschied.

Auf dem Sammelbahnhof wurden wir schon von vielen anderen Leuten erwartet. Der Zug stand bereit und alle kamen mit Kinderwagen, Handkarren und Fahrrädern in Güterwaggons. Viele hatten Glück, in ein Abteil für Personen zu kommen. Der Zug fuhr dann ins Ruhrgebiet, wo nun weitere Verbindungen bekannt gegeben wurden. Gegen Morgen kamen wir schließlich in Dortmund an. Hier mussten wir alle aussteigen, es war Endstation.

Im Bahnhofsgebäude wurde von den Schwestern des Roten Kreuzes Milchkaffee gereicht. Das tat gut und unsere Brote schmeckten wie Kuchen. Unsere Zugleitung versprach uns, dass in einer halben Stunde Züge kämen, die uns ins Bergische Land, nach Paderborn oder nach Kassel bringen würden.
Wir entschieden uns für Kassel, denn wir wollten ins Eichsfeld im Thüringer Wald, wo sich das Mutterhaus des Ordens der Schwestern befand. Es war eisig kalt, und alles spielte sich in der engen Bahnhofshalle ab. Babys wurden gewickelt, die Kinder spielten zwischen Stühlen und Bänken Nachlaufen. Einige Leute hatten eine Zeitung ergattert, die von vielen nacheinander gelesen wurde.

Die älteren Leute machten so gut es ging ein Nickerchen. Dann plötzlich der Aufruf eines kommenden Zuges. Alles lief nach draußen und unser Zug nach Kassel war auch dabei. Schnell musste das ganze Gepäck zusammengepackt werden und dann in den Zug verfrachtet werden. Die Männer hievten unseren Handwagen ins Abteil. Gott sei Dank, war diese Hilfe für uns eine große Erleichterung und endlich setzte sich der Zug in Bewegung.

Aber oh Schreck, nach einer kurzen Strecke bremste der Zug, Stimmen wurden laut und jemand rief: „Raus, raus in die Böschung, Tiefflieger sind gemeldet.“ Wir mussten also alles stehen und liegenlassen und schnell raus aus dem Zug. Die Flieger hörten wir mit Getöse herannahen und dann ging es auch schon los mit dem Bordwaffenbeschuss. Das bedeutete für uns, die Bomber peilten den Zug an.

Auch auf den Landstraßen, wenn ein Konvoi kam oder sich Lastwagen hintereinander bewegten, wurde geschossen. Es war schrecklich, tack tack tack. Wir dachten schon, dass sie uns jeden Moment treffen würden. Das alles dauerte nur ca. fünf Minuten und dann war der Spuk vorbei. Frierend, feucht und zitternd stiegen wir wieder in den Zug ein. Es herrschte eine plötzliche Stille überall um uns herum. Dann ratterte der Zug wieder los. Dieses Schauspiel wiederholte sich auf dieser Fahrt noch zweimal. Dabei mussten wir voller Angst über einige Stunden warten, bis die Freigabe zur Weiterfahrt durch das begleitende Zugpersonal gegeben wurde.

Schließlich hatten wir Glück und bis Kassel eine ruhige Fahrt. Ich glaube, dass man hier keinen Alarm oder Fliegerbomben kannte. Langsam wurde es dunkel und jemand sagte, dass wir schon acht Stunden unterwegs gewesen seien. Überall herrschte Chaos, denn die Toiletten waren verstopft, die Luft im Abteil sehr stickig und unser Proviant wurde auch zunehmend weniger. Was sollte nur aus uns werden?

In einem Waldstück hielt der Zug schließlich an und alle konnten aussteigen und ihre Bedürfnisse machen. Das Abteil wurde gelüftet, eine wahre Wohltat für uns alle!! Wir hielten dort insgesamt etwa eine ganze Stunde an. Dann kamen drei oder vier Lastwagen an und brachten Getränke und einen großen Kessel Suppe.
Woher die kamen, wussten wir nicht, aber alle waren schließlich froh und bedankten sich bei den Fahrern. Danach ging es weiter durch die Nacht, so dass der Zug im Morgengrauen Kassel erreichte. Manche verließen uns und wanderten auf eigene Faust weiter. Wir aber fuhren mit Lastwagen noch gut zwei Stunden bis zu unserem Bestimmungsort.

Hier wurde den Geflüchteten die Bleibe bei örtlichen Familien zugeteilt. Wir durften zusammenbleiben. Uns wurde eine Turnhalle als Unterkunft zugewiesen. Ein Herd, ein Tisch und ein paar Stühle sowie Matratzen hatte man dort abgestellt. Das war also unser neues Zuhause!! Es war schlimm, aber wir hatten ein Dach über dem Kopf und zum Heizen lagen Kohle und Holz auf dem Hof.

Am nächsten Tag kam ein Nachbar und schaute nach, ob alles in Ordnung war. Wir waren zufrieden und bald hatte man auch eine Gelegenheitsarbeit. Auf dem Hof, im Kinderhort oder als Putzhilfe in einem Geschäft konnte man sich mit einem Zubrot über Wasser halten.

Aber das Heimweh blieb, wann ist der Krieg endlich vorbei?? Endlich, im Mai 1945. Ab dann stand für uns fest, wir wollen heim, zurück ins Waisenhaus.
Noch im gleichen Monat hatte ich mich entschlossen, allein mit meinem Bruder (12 Jahre) in den Westen zurück zu fahren. Die Nonnen rieten davon ab, es sei viel zu gefährlich. Nach langem Hin und Her ging es dann doch. Wir packten unsere Habseligkeiten in den Koffer, er steht heute noch bei mir auf dem Speicher, und die Reise ging los bis Nordhausen. Stopp, Auffanglager? Mit Hilfe anderer Leute umgingen wir auf Schleichwegen das Lager und auch sobald die Zonengrenze.

Wir hatten einfach Glück. Mit neun Personen erreichten wird Kassel. Nun waren wir in Sicherheit. Aber dann begann eine Fahrt nach Paderborn, Lippstadt, Dortmund bis Duisburg. Einsteigen, warten, umsteigen usw. Genau 4 ½ Tage war ich mit meinem Bruder unterwegs. Mit der funktionierenden Rheinfähre von Duisburg aus auf die andere Rheinseite, per Anhalter, zu Fuß nach Wesel. Noch eine kleine Wegstrecke, wir waren wieder daheim in Xanten.

Aber wie sah es dort jetzt aus? Alles war verwüstet, die Fensterscheiben waren zerbrochen und alles stand im Wasser, weil ein Rohr gebrochen war. Die Schwestern waren im Nachbarort untergekommen. In unserer Straße hatten wir Bekannte, die waren schon ein paar Tage vorher zu Hause angekommen. Dort haben wir die erste Nacht verbracht und ich kann mich erinnern, dass im Keller noch Gläser mit Obst, rote Beete und Bohnen standen. Also zum Essen war schon mal etwas da. Es war traurig schön!!!

Der Krieg war zu Ende. Die sechs Schwestern, die sich gegen die Evakuierung erfolgreich gesträubt hatten, wohnten nun auf einer Etage im Krankenhaus. Dies bedeutete für uns Beide, wir mussten, als Waisen, eine Entscheidung für unseres weiteres Leben treffen.

Mein Bruder wurde von Verwandten in Krefeld aufgenommen. Die Nonnen nahmen sich meiner an und sorgten dafür, dass ich in Süchteln in der Orthopädischen Landes-Kinderklinik eine Anstellung annehmen konnte. Dort lernte ich Irmgard Wüffel aus Vettweiß kennen. Mit ihr kam ich dann erstmals mit Vettweiß in Kontakt. Besuche des Schützenfestes und der Kirmes waren, laut Irmgard, ein „Muss“

In Xanten versuchte ich dann, eine Anstellung im Kindergarten zu bekommen. Die dortigen Räumlichkeiten waren aber noch nicht vollständig ausgebaut, es herrschte Platzmangel vor, so dass eine Anstellung nicht gegeben war. Das war für mich dann das finanzielle „Aus“. Eine seminaristische Ausbildung konnte ich mir in einem städtischen Kindergarten nicht leisten.

Doch dann kehrte doppeltes Glück bei mir ein. So verzog ich gegen Ende des Jahres 1946 nach Vettweiß, da mir im dortigen Kindergarten des St. Josefs- Hauses eine Praktikantenstelle über einen Zeitraum von 18 Monaten angeboten wurde.

Daran anschließend fand ich für fünf Jahre Arbeit als Hausmädchen im Gasthaus Hülden bei Peter und Gertrud Hülden.
Im Rahmen der Feste in Vettweiß lernte ich dann meinen späteren Mann Willi Geuenich (Jahrgang 1928) kennen.

Willi_Geuenich.jpegWilli_Geuenich

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Im Jahre 1953 heirateten wir und wurden in Vettweiß sesshaft.

Unsere Familie vergrößerte sich durch unsere beiden Kinder Ulla und Ernst.
Ich bin froh, dass wir danach keine Kriegszeiten mehr hier erleben mussten und schaue heute voller Misstrauen in die Ostländer, wo ständig neue Krisenherde entstanden sind. Auf Befragung bin ich ausdrücklich damit einverstanden, dass meine geschilderten Kriegserlebnisse in den Bestand des HGV Vettweiß aufgenommen werden und im Amtsblatt und der Webseite im Internet veröffentlicht werden dürfen.

Vettweiß im September 2015:
Katharina Geuenich