Frohnhof
In der Zeit vor der Mechanisierung in der Landwirtschaft war Handarbeit in vielfältiger Form gefragt, so auch auf dem Frohnhof. Die Arbeiten konnten von den einheimischen Kräften kaum erledigt werden. Diese Lücken wurden bis in den dreißiger Jahren von Wanderarbeitern geschlossen.
Sie kamen überwiegend aus Nieder- und Oberschlesien. Sie hatten ihre eigene schlesische Sprache, nämlich ein Dialekt aus slawischen Sprachen und dem polnischen. Für uns Rheinländer war dieses Sprachengemisch kaum verständlich. Man bezeichnete Sie, etwas abwertend als Wasserpolacken. Sie wurden so genannt, weil sie in ihrer Heimat ursprünglich als Flößer und Fischer Ihr Brot verdienten. Mein Vater Lambert als Chef auf dem Frohnhof, bei der Bevölkerung nur als der „Fruhn“ bekannt, erzählte, dass es sich um äußerst fleißige Menschen handelte, die mit allen landwirtschaftlichen Arbeiten vertraut waren. Sie erledigten die Pflege und Ernte der Rüben, halfen bei der Getreideernte und beim Dreschen, notfalls auch bei der Versorgung des Viehs. Die letzte Arbeit war schließlich noch das Mistfahren mit seiner Streuung auf den Feldern. Mit dem Ende der vereinbarten Feldarbeit fuhren die Arbeitskräfte dann mit dem verdienten Geld wieder in ihre Heimat zurück. Entspannung im Kreis der Familie war angesagt, denn kurz nach Weihnachten kam dann die Anfrage eines ausgewählten Kontakters, wann und mit wie vielen Personen man im Frühjahr die Arbeit fern der Heimat wieder aufnehmen dürfe.
Dieser Arbeitsmarkt funktionierte reibungslos. Den Bauern war geholfen und die Wanderarbeiter hatten genügend Geld, mit dem sie in ihrer Heimat ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Manche Arbeiter gingen nicht mehr zurück, oft auch der Liebe wegen. Sie fanden hier ihre Heimat, wurden Teil unserer Gesellschaft und wurden richtige Rheinländer deren mitunter gänzlich fremde Lebensgewohnheiten übernommen und wie selbstverständlich praktiziert wurden. Noch heute findet man viele fremde Namen, die auf damalige Migrationsbewegung zurückzuführen sind.
In Vettweiß gab es seiner Zeit zwei große Schafherden und zwar auf dem Mönchhof und auf dem Frohnhof. Einmal im Jahr mussten die Schafe geschoren werden. Da der verantwortliche Schäfer diese Aufgabe mit der Handschere allein nicht erledigen konnte, mussten hauptberufliche Schafscherer gemietet werden. Sie kamen aus Brandenburg und schoren mit ihrem elektrischen Equipment die Schafe in kürzester Zeit. Zuvor wurden die Schafe durch ein Wasserbad getrieben und so von dem größten Schmutz befreit. Die Wolle wurde dann in riesige Säcke gesteckt und per Bahn zum Wollmarkt nach Paderborn versandt. Zur damaligen Zeit war Schafwolle ein wichtiger Rohstoff für eine Vielzahl von Verwendungen bis Ersatzmaterialien der Schafwolle teilweise den Rang abliefen. Neuerdings wird jedoch vermehrt Schafwolle für unterschiedlichste Verwendungen wieder nachgefragt. Durchgeführt wurde die Schur meist im Monat Mai wobei man hoffte, dass der alljährliche Kälteeinbruch im Monat Juni, die sogenannte Schafskälte, nicht so intensiv war und die Schafe keinen Schaden erlitten. Ein gewisser Zeitdruck ließ aber keine andere Planung zu.
Zu den Wanderarbeitern gehörten auch die Ziegelbäcker. Sie kamen aus Norddeutschland und Holland und waren Spezialisten im Brennen von Ziegeln. Wurde ein größeres Gebäude errichtet und der Bauherr verfügte über einen Acker mit Lehmvorkommen oder Tonerde, dann wurden die Feldbrandziegel zweckbestimmt für dieses Bauvorhaben vor Ort gebrannt. Die Ziegelbäcker campierten dann unmittelbar bei den selbst installierten Brennöfen, denn der Brennvorgang als solcher musste ja rund um die Uhr überwacht werden. Mit der Erfindung des Ringofens wurde die aufwändige Produktion von Feldbrandziegeln eingestellt. Der aufmerksame Beobachter kann an sämtlichem Mauerwerk, dass bis zum Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde, leicht erkennen, dass es sich um Feldbrand handelt. Zudem lassen manche Bodensenkungen in der Gemarkung Vettweiß erkennen, dass dort einmal Ziegel gebrannt wurden. So ist im Adressbuch von Vettweiß aus dem Jahre 1910 Herr August Christoffels als Landwirt und Ziegeleibesitzer eingetragen. Auf seinem Ziegeleigelände stand noch lange Zeit ein einfaches Fachwerkgebäude, in dem die Ziegelbäcker schliefen. Der Beruf des wandernden Ziegelbäckers gehört seit langem der Vergangenheit an, denn mit dem Bau von Ringöfen war die Zeit der Feldbrandöfen endgültig vorbei.
Der insgesamt geordnete und auch gut funktionierende Arbeitsmarkt, bestehend aus Wanderarbeitern, Saisonarbeitern und festen hiesigen Mitarbeitern sollte jedoch bald ein Ende haben. Im Jahre 1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Sie hatten ganz bestimmte Vorstellungen von der Zukunft und träumten von einem Großdeutschland. Um diesen Traum zu verwirklichen, benötigte man natürlich Land. So erfolgte im März 1939 die Eingliederung des austrofaschistischen Bundesstaates Österreich in das nationalsozialistische Deutsche Reich. Von der NS Propaganda wurde dieser Vorgang als Wiedervereinigung bezeichnet. „Heim ins Reich“, so lautete der damalige Propagandaspruch. Am 01. September 1939 erfolgte der Überfall auf Polen, am 10. Mai 1940 marschierte die deutsche Armee unter Verletzung der Neutralität von Holland, Belgien und Luxemburg in Frankreich ein und am 20. Juni 1941 begann der verhängnisvolle Russlandfeldzug.
Für alle diese Aktionen benötigte man natürlich Soldaten. Grundlage für deren Rekrutierung war das Wehrgesetz vom 21.05.1935. Zu diesem Zeitpunkt waren die kriegerischen Auseinandersetzungen durch Deutschlands Führung offensichtlich längst beschlossen. Es wurde gezielt daraufhin gearbeitet. Auch der Frohnhof war von der gesamten Entwicklung betroffen. So mussten Nikolaus Lanzerath, Wilhelm Lanzerath, Josef Palm, Thomas Veith, Peter Metz und Peter Gietmann ihrer Wehrpflicht nachkommen. Zuerst kamen sie für ein halbes Jahr zum Reichsarbeitsdienst und danach, nach einer kurzen Verschnaufpause, zur Deutschen Wehrmacht. Ihre Teilnahme am Kriegsgeschehen war damit unabänderlich und der Frohnhof von den einheimischen Mitarbeitern nahezu entblößt. Nach den Planungen der damaligen Regierung konnte diese Lücke nur durch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter geschlossen werden.
Durch den Polenfeldzug kamen etwa 400 000 polnische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Sie wurden überwiegend in der Landwirtschaft eingesetzt. Hinzu kamen noch ca. 200 00 Zivilisten, die das Schicksal ihrer gefangenen Landsleute teilen mussten. Auch Vettweiß wurden einige Gefangene als Arbeitskräfte zugeteilt.
In Vettweiß gab es allerdings kein Kriegsgefangenenlager für polnische Soldaten. Da der polnische Staat nach Rechtsauffassung der deutschen Regierung nicht mehr bestand, wurden die Polen aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Sie durften ihre Uniform ausziehen und wurden zu Zivilarbeitern. Allerdings mussten sie sich verpflichten, in Deutschland zu bleiben. Sie waren jetzt vom Kriegsgefangenen zum Zwangsarbeiter geworden und erhielten somit Unterkunft in der Ihnen zugeteilten Arbeitsstätte. Dem Frohnhof wurde ein polnisches Ehepaar, Peter Kostrzewa und seine Frau Felicja zugewiesen. Sie wohnten im unteren Giebelzimmer des alten Hauses. Frau Kostrzewa litt offener Tuberkulose, der sie am 18. Mai 1944 erlag. Im Kirchenbuch der Pfarre St. Gereon hat der damalige Pfarrer Matthias Gerards folgenden Eintrag vorgenommen:
A.D. 1944 die 18. Maii subito obiit in Vettweihs 23 annos Felicja (Felicia) Kostrzewa, femina Poloniensis (habens L. Courth) uxor Petri Kostrzewa, sepulta est in coemetereio nostro die 21. Maii.
Im Jahre des Herrn 1944 am 18. Mai verstarb plötzlich in Vettweiß die 23 Jahre alte Felicja (Felicia) Kostrzewa, eine polnische Frau (wohnhaft bei L. Courth) Ehefrau von Peter Kostrzewa. Sie wurde auf unserem Friedhof am 21. Mai beerdigt.
In Erinnerung ist mir noch, dass Peter Kostrzewa meine Mutter um ein Kleid für seine verstorbene Frau bat. Seine Begründung: Die deutschen Frauen werden im Nachthemd beerdigt, die polnischen Frauen im Kleid. Das Begräbnis fand unter großer Beteiligung der Bevölkerung statt. Nach dem Kriege setzten die polnischen Verwandten der Verstorbenen einen Grabstein. Heute besteht das Grab nicht mehr. Es wurde aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen eingeebnet.
Mit Beendigung des Frankreichfeldzuges gerieten ca. 1,2 Mio, französische Soldaten in deutsche Gefangenschaft. Für die deutsche Wehrmacht und die Zivilverwaltung war das ein riesiges Problem. Erstens mussten die französischen Kriegsgefangenen entsprechend den Regeln der Genfer Konvention versorgt werden und zweitens waren sie ein willkommenes Arbeitspotential für den deutschen Arbeitsmarkt. Insbesondere wurden diese Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft eingesetzt, so auch in Vettweiß. In dem ehemaligen Jugendheim der Pfarre St. Gereon wurde für die in den bäuerlichen Betriebenen eingesetzten Franzosen ein sog. Außenlager eingerichtet. Dort wurden ca. 40 Gefangene untergebracht. Bewacht wurden sie von Landesschützen, Soldaten, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr kv (kriegsverwendungsfähig) sondern gkv (garnisonsverwendungsfähig Heimat) eingestuft waren.Das Lager als solches war weitgehend offen. Es gab keinen Stacheldraht, sie waren nicht eingesperrt. Die Verordnung über den Umgang mit Kriegsgefangenen vom 11.05.1940, wonach jeglicher Umgang mit Kriegsgefangenen und jede Beziehung zu ihnen untersagt war, galt auch für das Lager Vettweiß. Sie wurde jedoch von den Wachmannschaften sehr locker angewendet und in vielen Punkten nicht beachtet.
Luftkrieg und Luftschutz waren damals schon ein Thema. Kriegsgefangene durften bei Fliegerangriffen nicht mit deutschen Bürgern gemeinsam in einen Luftschutzbunker. Auf dem Acker am Dirlauer Weg, neben der Umschaltstation, elektrisch Hüsje genannt, wurden sogenannte Laufgräben angelegt, die die Franzosen bei Gefahr benutzen durften.Auch im Frohnhof waren immer vier Franzosen tätig. Die ersten Franzosen waren in langen Kolonnen über die damalige Reichstraße 1 bis Dortmund marschiert. Ihre Schuhsohlen waren durchgelaufen und ihre Kleidung war ramponiert. Für meine Eltern war es eine Selbstverständlichkeit, ihre gesamte Ausstattung wieder in Ordnung zu bringen und ihnen so wieder ein wenig Würde zu verschaffen. Im alten Haus hatten sie ein großes Zimmer, was ihnen tagsüber Aufenthalt bot. Erinnerlich ist mir, dass in diesem Zimmer ein großes Bild vom Marschall Petain hing. Ich wusste damals nicht, wer das war. Zu dieser Zeit wurde er von den Franzosen noch als der Sieger von Verdun aus dem 1. Weltkrieg gefeiert. Nach dem Kriege wurde er wegen Kollaboration mit den Deutschen zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde aber nie vollstreckt sondern in eine lebenslange Haft umgewandelt.
Die Gefangenen mussten am Arbeitsplatz verpflegt werden. Für sie wurde nicht extra gekocht; sie erhielten das gleiche Essen wie wir. An die rheinische Küche mussten sie sich erst gewöhnen. Manche Speisen waren ihnen fremd und gewöhnungsbedürftig. So war Rotkohl, chou rouge, für sie ein Gräuel. Es ist bekannt, dass Gefangene, die kleineren landwirtschaftlichen Betrieben zugeteilt waren, bei den täglichen Mahlzeiten mit am Tisch saßen, was wiederum bei Bekanntwerden die örtlichen „Parteisoldaten“ auf den Plan rief, die Vorhaltungen und Rügen vehement aussprachen. Weiter ist bekannt, dass sich Nachkriegsfreundschaften zwischen ehemaligen französischen Gefangenen und vereinzelten bäuerlichen Familien entwickelten, die durch gegenseitige Besuche über viele Jahre gepflegt wurden.
Erinnerlich sind mir insbesondere zwei Gefangene, die längere Zeit auf dem Frohnhof gearbeitet haben, nämlich Joseph und Jean. Joseph, aus Südfrankreich stammend, groß, dunkelhaarig und sehr ruhig. Er war Fachmann im Umgang mit den Pferden, der geborene Pferdeknecht und auch als solcher tätig. Eines Tages erhielten wir ein französisches Beutepferd. Offensichtlich erkannte Joseph das Pferd, was er sofort mit seinem Namen „Monsieur Renault“ begrüßte. Joseph war auch im Frisör Handwerk geübt. Mein Vater kaufte ihm einen manuellen Haarschneider sowie die übrigen zum Haare schneiden notwendigen Utensilien. Nachdem er meinem Bruder und mir erstmals die Haare geschnitten hatte, kam die Kriminalpolizei und kassierte die gesamten Utensilien. Man hatte meinen Vater angezeigt mit der Begründung, dass dies nicht zulässig sei. Dieses Handwerk an Deutschen zu praktizieren sei nicht die Aufgabe von Gefangenen. Eine verrückte Zeit.
Sehr gut erinnere ich mich an folgende Begebenheit: Es kam ein starker Winter mit viel Schnee und Frost. Joseph sah und erlebte den ersten Schnee. Er freute sich wie ein kleines Kind, genoss das Schlittenfahren, Rutschbahn schlagen und natürlich den Schnee, besonders mit uns Kindern. Jean Flambard stammte aus Granville in der Normandie, von Beruf war er Taxi- bzw. Autofahrer. Da lag es auf der Hand, dass er unseren Lanz Bulldog für den in Russland kämpfenden Thomas Veith übernahm. Diesen Job erledigte er mit Bravour und Sachverstand.
Jean war unserer Familie eng verbunden, zumal meine Eltern sich mit ihm in seiner Muttersprache unterhalten konnten. Nach dem Krieg erschien er mit seiner Frau bei uns zu Besuch. Er wollte ihr zeigen, wo er in Gefangenschaft war. Die Begrüßung war herzlich und führte dazu, dass unser Vater, Bruder Lambert und ich zu einem Gegenbesuch in die Normandie fuhren, für uns ein unvergessliches Erlebnis.
Die Franzosenzeit in Vettweiß endete schließlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1944. Mit dem Näherrücken der Front wurde das Lager aufgelöst und die Gefangenen wurden ins Ruhrgebiet verlegt. Dort hatten sie nach Aussagen von Jean eine schwere Zeit, geprägt durch Hunger und viele Krankheiten, die er Gott sei Dank überstand.
Zum obigen Thema noch einige Anmerkungen:
Immer wieder flohen einzelne Gefangene. Manchen gelang die Flucht. In zwei beschwerlichen Nachtmärchen erreichten sie die belgische oder holländische Grenze. Dort wurden sie von der belgischen bzw. holländischen Widerstandsbewegung in Empfang genommen und ins Innere des Landes weitergeleitet. Eine glückliche Situation ergab sich für die Gefangenen wenn sie über das Rote Kreuz manchmal Pakete aus der Schweiz mit Kaffee, Schokolade und Kakao bekamen. Diese wertvollen Sachen waren natürlich Gold wert. Sie dienten den Franzosen als Tauschware, wurden aber auch verschenkt. Schließlich waren die Gefangenen zur Sonntagsarbeit verpflichtet. Sie waren dann zwar auf dem Hof, arbeiteten aber nicht. Eine Kontrolle seitens der zuständigen Landesschützen fand nie statt.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass den französischen Gefangenen das kräftezehrende Arbeiten in der Industrie mit kaum ausreichender Nahrung erspart blieb. Sie wurden den damaligen Verhältnissen entsprechend gut versorgt, genossen eine gewisse Freiheit und wurden von den Vettweißer Bürgern als Menschen geachtet und auch so behandelt. Das war in der damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit.
Der Überfall auf Russland am 22. Juni 1941 brachte weitere einschneidende Veränderungen mit sich. Viele Menschen waren durch den Einsatz an allen Fronten Europas gebunden; sie fehlten der heimischen Wirtschaft und führten zu einem gewaltigen Arbeitskräftemangel in allen Bereichen, so auch in der Landwirtschaft. Wer auf Besserung gehofft hatte, sah sich durch den Krieg gegen Russland getäuscht. Dieser Mangel konnte nur durch Fremdarbeiter, zu denen auch die Ostarbeiter gehörten, nahezu behoben werden. Dem Frohnhof wurden fünf weibliche und ein männlicher Ostarbeiter zugewiesen. Sie kamen aus dem Dulag (Durchgangslager) Düren, der örtlichen Sammel- und Verteilungsstelle für Ostarbeiter. Ihre Heimat war das Reichskommissariat Ukraine. Mithin waren sie Ukrainer und keine Russen. Untergebracht wurden die Ukrainer im Parterre des alten Hauses, in Zimmern, die für damalige Verhältnisse durchaus komfortabel waren. Entsprechend der damals herrschenden Ideologie des Rassenwahns galten die Ukrainer jedoch als Untermenschen und sollten auch so behandelt werden. So war die Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30.06.1942 anzuwenden. Sie war äußerst streng und restriktiv.
Beispielsweise war für alle Ostarbeiter das Tragen eines Kennzeichens verpflichtend. Es war ein 5 x 6 cm blaues Rechteck mit dem weißen Schriftzug Ost. So konnte jeder erkennen, dass der Träger nicht zum deutschen Volk gehörte und ein Mensch zweiter Klasse war. So erhielt der Ostarbeitererlass vom 20.02.1942 folgende das Leben der Menschen einschränkende Bestimmungen.
Verbot den Arbeitsplatz zu verlassen, Verbot des Besitzes von Geld und Wertgegenständen, Verbot des Besitzes von Fahrrädern, Verbot des Erwerbs von Fahrkarten, Verbot des Besitzes von Feuerzeugen, Betriebsführer und Vorarbeiter besaßen ein Züchtigungsrecht, schlechtere Verpflegung als Deutsche, weniger Lohn als Deutsche, Verbot jeglichen Kontakts mit Deutschen, sogar des gemeinsamen Kirchenbesuchs, um einige zu nennen.
Die Ostarbeitererlasse führten bei den Ukrainern zu einschneidenden Einschränkungen. Ihre konsequente Beachtung konnte jedoch in Vettweiß, so auch im Frohnhof, nicht kontrolliert werden. Während viele in der Industrie arbeitende Ostarbeiter wegen der reduzierten Kost Hunger litten, war das auf dem Dorf kein Problem. Man saß ja an der Quelle und erhielt, von wenigen Ausnahmefällen abgesehen, ausreichende leibliche Versorgung.
Die Aufsicht über die Ostarbeiter hatte die örtliche Polizei, in Vettweiß ein Polizeimeister Sprenger und die Landwacht, der im Dorf mehrere Personen angehörten. Sprenger gehörte zur berittenen Polizei. Er hatte übrigens in seinem damaligen Dienstsitz, dem heutigen Hause Utzen am Friedhofsweg, einen Pferdestall, wo sein Reitpferd stand. Versorgt wurde dieses Pferd vom Frohnhof.
Mein Vater, Lambert Courth, gehörte zur Landwacht. Als Bewaffnung hatte er eine kleine Pistole, die mit Munition in der Schulblade seines Schreibtischs lag. Seine Aufgabe bestand darin, bei Fliegeralarm nach feindlichen Personen zu suchen, die die Alarme vielleicht als Fluchtmöglichkeit ansahen oder aber nach eventuell abgestürzten feindlichen Flugzeugbesatzungen. Zu diesem Zweck ging er, der Schützengasse folgend, bis zur Feldscheune von Otto Hülden, setzte sich dort auf einen Strohballen und wartete ab, bis der gesamte Spuk durch Entwarnung vorbei war. Festzuhalten bleibt, dass die örtliche Polizei die Ostarbeiter streng überwachte und bei Nichtbeachtung der Ostarbeiterverordnung rigoros durchgriff. Im Zweifel erfolgte dann die Einweisung in das Stalag (Kriegsgefangenenlager) Merzenich. Dort war ein Sonderlager für die Ostarbeiter eingerichtet. In diesem Lager herrschten Hunger, Krankheit und vielfach der Tod.
Und nun zu den Ukrainerinnen des Frohnhofs. Sie waren daheim mit dem Versprechen eines einmaligen Ernteeinsatzes geködert worden. Nach der Ernte fragten sie immer wieder nach der Möglichkeit einer baldigen Rückkehr in ihre Heimat. Leider gab es diese Möglichkeit nicht mehr. Sie waren jetzt nationalsozialistische Zwangsarbeiter und mussten bleiben.
Von den Ukrainerinnen hießen drei Marie, eine Anna und die letzte Olga. Letztere war eine große, kräftige Frau. Bei ihrer Ankunft war sie mit einem Schaffell umhangen, für uns ein ungewohnter Anblick. Der Mann hieß Wasil. Er war mit den Frauen weder verwandt noch verschwägert. Es war vorgesehen, dass die Ukrainer ihr Essen selbst kochten. Ein eigener Herd und das notwendige Gerät hatten meine Eltern im Haus installiert. Das war aber ein Schuss in den Ofen. Entweder konnten oder wollten sie nicht selbst kochen. So baten sie meine Mutter: „Mama bitte für uns kochen“. Meine Mutter, in ihrer Gutmütigkeit, tat das auch. So wurden täglich auf dem großen Kohleherd in der Küche mindestens fünfzehn Mittagessen gekocht, fürwahr eine riesige Aufgabe für unsere Mutter und die zwei ihr zur Seite stehenden Hausmädchen. Bei Mutter und den Mädchen traf man auf helle und lächelnde Gesichter, die ein wenig Annehmlichkeit, vielleicht auch eine gewisse Geborgenheit in dieser schweren und scheinbar nicht enden wollenden Zeit vermittelten.
Die Ukrainerinnen erledigten alle typischen Arbeiten im Feld und auf dem Hof. Sie konnten alles, waren stets willig und gerne gesehene Mitarbeiterinnen. Kurzum: Sie waren bei uns und im Dorf sehr beliebt. Ihre Freizeit nutzten sie für vieles. So waren sie wahre Meisterinnen in Handarbeiten und im Nähen. Zu Anfang schnitzten sie sich hölzerne Spindeln zum Spinnen der Schafwolle. Dann stellte meine Mutter ihnen ein altes Spinnrad zur Verfügung. Jetzt ging ihnen das Spinnen schnell von der Hand. Die Ukrainer hatten im Gegensatz zu uns und zu den Franzosen eine andere Kultur. So waren ihre Essgewohnheiten anders, sie waren mehr rustikal. Ihre bevorzugten Speisen waren Brot (Khlip), Kartoffel (Kartoplya), Kappes (Kapusta) und Milch (Moloko). Gerne aßen sie auch Zuckerrüben. Sie schnitten sie in kleine Stücke, legten sie in ein mit etwas Wasser Einmachglas ein und aßen sie dann. Diese Speise war sicherlich für uns etwas gewöhnungsbedürftig, aber es schmeckte ihnen. Gehungert haben die Ukrainer, im Gegensatz zu ihren in der Industrie verpflichteten Landsleuten, auf dem Frohnhof nicht. Die für die Ostarbeiter bestimmten Lebensmittelkarten reichten aus, um nicht zu verhungern, jedoch war der Hunger war bei ihnen allgegenwärtig. Dagegen hatten die auf dem Frohnhof und im Dorf lebenden Ukrainer ausreichend Nahrung. Hunger war für sie ein Fremdwort.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass die Ukrainer ihre Notdurft zuerst im Stehen und nicht in der Hocke verrichteten. Das bei uns übliche Hocken zur Erledigung ihrer irdischen Geschäfte mussten sie zuerst lernen.
Eine im Ort aufkommende und spürbar werdende Nervosität hatte sich seit Wochen breit gemacht. Ein Bombenangriff, wie aus dem Nichts, traf das Dorf am 30. November 1944 völlig unvorbereitet. Allein auf dem Frohnhof vielen neun Bomben. Auf dem Hof Kau, in Reichweite zum Frohnhof, wurde an diesem Tag gedroschen. Den Hof traf das Bombardement mit voller Wucht und vielen Toten. Darunter waren auch fünf ukrainische Zwangsarbeiterinnen. Schließlich hatte die Zeit der Ukrainerinnen auf dem Frohnhof bald ein Ende. Mit dem Heranrücken der Front mussten alle wieder zurück nach Düren ins Dulag. Von dort aus wurden sie weiter in den Osten Deutschlands verlegt. Niemals haben wir je etwas von ihrem weiteren Geschick gehört. Bleibt nur zu hoffen, dass sie die Wirren des Kriegsendes gut überstanden und gesund wieder in ihre Heimat gelandet sind. Ihr ursprünglich für nur eine Saison vorgesehener Ernteeinsatz hätte dann trotz allem ein glückliches Ende gefunden.
Der einzige männliche Ukrainer, der auf dem Frohnhof gelebt und gearbeitet hat war Wasil. Auch er wohnte im alten Haus.
Wasil war unserer Familie gegenüber loyal. Er war fleißig, beherrschte jede Arbeit, und war ein Meister im Umgang mit den Pferden. Nach kurzer Zeit vertraute mein Vater ihm eine Koppel Pferde an, ein großer Vertrauensbeweis.
Wasil blieb bis zum Ende des Krieges auf dem Hof. Nachdem unser Meister, Herr Tesch, mit seiner jungen Familie den Hof verlassen und mit Hengst Pluto und Pferdekarre in Richtung Rhein flüchten musste, waren Wasil, Familie Dykstra und mein Vater die einzigen Bewohner des Hofes. Wasil erledigte nun die meisten Arbeiten, die allerdings wegen der besonderen Situation nur Notstandsarbeiten waren.
Nicht zu vergessen, er wurde auch insbesondere für Hand- und Spanndienste eingesetzt. So transportierte er mit seinen Pferden jede Nacht im Schutz der Dunkelheit die im Vettweißer Wald gelegene Munition zur Front. Diese Aufgabe war ein sehr gefährliches Unterfangen. Bei Tagesanbruch musste er wieder auf dem Frohnhof sein, um nicht das Ziel der feindlichen Flieger zu werden. Als die Amerikaner Ende Februar kurz vor Vettweiß standen, war Wasil verschwunden. Niemand wusste wohin er sich in den letzten Kriegstagen abgesetzt hatte. Sollte es das gewesen sein? Dem war nicht so. Wasil war in der Euskirchener Kaserne gelandet. Dort wurden nach dem Kriege alle DPs (displaced persons) kaserniert, verhört und nach Möglichkeit in ihre Heimat zurückgeschickt. Schließlich noch ein großer Schock für meine Eltern. An einem ruhigen Sonntagnachmittag fuhr ein amerikanischer Militärlastwagen auf den Hof. Er war besetzt mit DPs in amerikanischer Uniform. Sie kamen offensichtlich um zu plündern. Es war bekannt, dass ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter ihre Zwangsarbeitsstätten aufsuchten, um zu plündern und um oftmals blutige Rache an den Personen zu nehmen, die ihnen während der Zwangsarbeitszeit übelst und Menschen verletzend mitgespielt hatten. Wasil, in amerikanischer Uniform, war auch dabei und ging auf meinen Vater zu. Dieser fragte ihn: „Wasil, was habe ich Dir getan“? Wasil antwortete ihm spontan: „Nichts Chef“.
Damit war das Problem des Plünderns Gott sei Dank vom Tisch. Meine Eltern schenkten Wasil noch einen Anzug und die „Plünderer“ zogen ab. Nie mehr haben wir jemals etwas von seinem Verbleib gehört. Sicherlich ist er gesund in seine Heimat zurückgekehrt. Ansonsten hätte er sich sicher einmal gemeldet.
Der Vollständigkeit halber seit noch vermerkt, dass die Probleme und Defizite auf dem Arbeitsmarkt durch die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen zwar gemindert aber nicht gelöst werden konnten. So wurde die gesamte deutsche Bevölkerung, arbeitsfähige Männer und Frauen sowie Jugendliche ab dem 10. Lebensjahr für Arbeiten unterschiedlichster Art aktiviert. Von den damaligen Machthabern wurde der Begriff der Arbeitsfront propagiert. Es herrschte eine staatlich verordnete Arbeitspflicht. In Industrie, Landwirtschaft, Handel und Gewerbe sowie im öffentlichen Dienst mussten Frauen Arbeiten übernehmen, die traditionell die Domäne der Männer waren. Auch die Jugendlichen wurden eingespannt. Unmittelbar nach Beendigung der Volksschule war für die Jungen das Landjahr und für die Mädchen das Pflichtjahr unumgänglich. Ohne deren Ableistung hatte man keine Chance später einen Beruf eigener Wahl zu erlernen.
Eine freie Wahl des Arbeitsplatzes gab es nicht. Jeder musste die Arbeit annehmen, die ihm vom Staat zugewiesen wurde. Die Einhaltung der staatlichen Anordnungen wurde strengstens kontrolliert. Hierzu wurde ein sogenanntes Arbeitsbuch eingeführt, dessen Führung für jeden obligatorisch war. Eine besondere Bedeutung hatte in der damaligen Zeit das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, WHV genannt. Seine Aufgabe war es, die Soldaten an der Front sowie bedürftige Volksgenossen in der Heimat zu unterstützen. Alle Bürger wurden zu Geld - und Sachspenden aufgerufen. Die Sammler, in der Regel treue Parteigenossen, zogen von Haus zu Haus und sammelten Geld und Sachspenden ein. Einer Verweigerung von Geld- und Sachspenden konnte man sich nicht entziehen. Als Dankeschön erhielt man meist ein eigenes Abzeichen.
Eine Aktion des WHV sei hier erwähnt. Die deutsche Wehrmacht war weit in Russland vorgerückt. Sie wurde bald vom russischen Winter, Väterchen Frost genannt, mit Schnee und eisiger Kälte überrascht. Über spezielle Winterbekleidung verfügte man kaum; es kam zu Erfrierungen. Nun war das WHV gefragt. Man rief eine große Strickaktion ins Leben und die deutschen Frauen und Mädchen wurden zum Stricken aufgefordert. Von der wenigen Wolle, die man zur Verfügung hatte, wurden warme Socken, dicke Handschuhe und spezielle Pulswärmer für Soldaten gefertigt. Sicherlich war dies eine gute und hilfreiche Aktion zum Nutzen der frierenden Soldaten. Von der damaligen Führung wurde sie natürlich propagandistisch als wesentlicher Beitrag der Heimatfront zum erwartenden baldigen Endsieg dargestellt.
Der Krieg an allen Fronten, der immer mehr zur Materialschlacht mutierte, bedurfte Unmengen an Material, gleich welcher Art. Da die einheimischen Ressourcen sehr begrenzt waren, kam dem Altmaterial und seinem Recycling größte Bedeutung zu. In Vettweiß wurde eine eigene Sammelstelle für Altmaterial eingerichtet. Es war eine Holzbaracke im Tal unmittelbar neben der Schule, an der Stelle wo sich heute ein privat genutztes Bürogebäude befindet. Diese Baracke war das Reich der Schüler, gleich welchen Alters. Sie sortierten das Altmaterial und bereiteten es für den Abtransport vor.
An technischen Einrichtungen verfügten wir lediglich über eine Handpresse zur Herstellung von Papierballen. Diese Presse durfte ich, Hermann Courth, bedienen. Wahrscheinlich habe ich das zur großen Zufriedenheit aller gemacht, denn eines Tages erhielt ich als Anerkennung ein Buch mit dem Titel „Mölders und seine Männer“ überreicht.
Für uns jugendliche Altmaterialsammler gab es auch ein eigenes Lied, das wir immer bei unseren Aktionen sangen. Der Anfang des Liedes ist mir heute noch in bester Erinnerung:
„Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, ausgefallene Zähne sammeln wir“
Während des Krieges wurde die Grundversorgung der Bevölkerung mit Speisekartoffeln in starkem Maße durch einen Schädling gefährdet, nämlich dem Kartoffelkäfer. Laut damaliger Propaganda seien die Käfer von englischen Fliegern abgeworfen wurden, um die Kartoffelernte zu vernichten und somit die deutsche Bevölkerung auszuhungern. Im Nachhinein erwies sich dies jedoch als eine fake News. Da es chemische Mittel zur Bekämpfung dieser Schädlinge nicht gab, war die deutsche Jugend gefordert und verpflichtet die Käfer und deren Larven per Hand einzusammeln.
Es wurde eigens ein Kartoffelkäfer Abwehrdienst (KAD) installiert, der für die Vernichtung der Käfer zuständig war. „Sei ein Kämpfer, sei kein Schläfer, acht auf den Kartoffelkäfer“. Auch die Vettweißer Volksschule war gefordert. Immer wieder zogen die oberen Klassen geschlossen durch die Kartoffelfelder und sammelten eifrig Käfer ein. Es war für alle eine gern gesehene und beliebte Arbeit, denn man brauchte nicht zur Schule. Wir Schüler von der Unterklasse waren neidisch, denn wir wurden nicht zum Sammeln eingesetzt und mussten weiter lernen. Insgesamt haben diese Aktionen jedoch nicht viel gebracht. Sie waren nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und dienten nur der Beruhigung der Bevölkerung. Die Kartoffelkäfer vermehrten sich fleißig weiter. Erst nach dem Kriege konnte man das Problem lösen. Die chemische Industrie produzierte nun wirksame Bekämpfungsmittel und die Kartoffelkäfer gehörten der Vergangenheit an.
Eine weitere Aufgabe, die von den Jugendlichen übernommen werden musste, war das Einsammeln von Flugblättern. Immer wieder warfen die nachts fliegenden englischen Flugzeuge Flugblätter ab, um die deutsche Bevölkerung über den tatsächlichen Verlauf des Krieges zu informieren. Zudem enthielten sie oftmals Informationen, die den Bürgern von der gleichgeschalteten deutschen Presse vorenthalten wurden. Diese Flugblätter wurden von den Regierenden als wehrkraftzersetzend eingestuft und durften nicht in die Hände der Bevölkerung gelangen. Gefundene Flugblätter mussten bei der Parteiverwaltung abgegeben werden; ihr Besitz war ein Vergehen. Nun waren die Schüler und die Jugendlichen gefordert. Systematisch wurden Feld und Wald abgesucht. Das Ergebnis der Suche musste dann im Bürgermeisteramt abgeliefert werden. Dort wurde es unverzüglich als Feind Gut vernichtet.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass natürlich nicht alle Flugblätter gefunden und abgeliefert wurden. Viele Blätter blieben in den einzelnen Familien und wurden dort gelesen und versteckt. Der Hunger nach wahrer Information war bei den einzelnen Bürgern einfach zu groß.
Es würde den Rahmen meiner Ausführungen sprengen, an dieser Stelle auf die vielfältigen Arbeiten, die von den Landkindern mehr oder weniger freiwillig oder zwangsläufig erledigt wurden näher einzugehen. Dazu gehörten die kindgerechten Arbeiten in Haus, Hof, Feld und Garten, wie beispielsweise das Auflesen der Kartoffeln (Ädäppel raffe), die Rüben vereinzeln (Knolle rötsche) und das Versorgen des Kleinviehs. Abschließend sei nur noch eine Tätigkeit erwähnt, die für alle Schulkinder verpflichtend war, nämlich das Sammeln von Heilkräutern.
Die Reichsregierung hatte die „Reichsarbeitsgemeinschaft für Heilpflanzenkunde und Heilpflanzenbeschaffung“ (RfH) gegründet. Sie war die für diesen Bereich zuständige Organisation. In sämtlichen Schulen wurden Heilkräuter gesammelt, vornehmlich Schafgarbe, Huflattich, Lindenblüten, Taubnesseln, Holunderblüten, Brombeer- und Haselnussblätter, um einige zu nennen. Die gesammelten Pflanzen wurden auf Speichern getrocknet und dann von der RfH eingesammelt. So wurden sie ein wichtiger Rohstoff für die Produktion natürlicher Heilmittel für die verwundeten Soldaten und die notleidende Bevölkerung.
Soweit meine persönlichen Erinnerungen und die Erinnerungen meiner Geschwister an eine verrückte Zeit.
Für unsere Eltern war es, im Nachhinein betrachtet ein Horror. Sie hatten in erster Linie Angst um Leib und Leben und um das Überleben ihrer Familie. In zweiter Linie standen die materiellen Verluste. Diese würde man nach dem Kriege wohl wieder bereinigen können. So geschah es auch. Der Frohnhof sowie die zerstörten Gebäude rund um den Marktplatz wurden wieder aufgebaut, sodass man heute nicht mehr erkennen kann, was dort vor nahezu achtzig Jahren passiert ist. Die Spuren des damaligen Infernos sind verwischt.
Meine Geschwister und ich, wir haben diese Zeit ohne einschneidende Blessuren überstanden. Die Eltern hatten keine Zeit, sich um uns zu kümmern. Wir waren keine Rotorkinder. Der Hof, das Dorf sowie Feld und Wald waren für uns ein großer Abenteuerspiellatz. Zudem hatten wir keine Schule. Mit den Problemen der Kriegswirren mussten wir selber fertig werden. Es gab keine seelsorgerische Betreuung, geschweige denn eine psychologische Hilfe.
Abschließend bleibt noch anzumerken, dass ich meine persönlichen Erinnerungen sowie die Erinnerungen meiner Geschwister Franz- Herbert und Waltraud in vorstehenden Ausführungen dokumentiert habe.
Möge der Herrgott den geneigten Leser und die kommenden Generationen davor beschützen, solche Zeiten noch einmal zu erleben.
Im November 2025
Hermann Courth