Trotz vieler Schicksale auch eine schöne Zeit verlebt
Ich gebe zu, überrascht gewesen zu sein, als ich davon erfuhr, dass sich in Vettweiß der Heimat- und Geschichtsverein gegründet hatte. Noch überraschter war ich, als der Wunsch an mich herangetragen wurde, meine Erinnerungen aufzufrischen und zu Papier zu bringen.
Ein Versuch ist es mir schon wert.
Am Sonntag, dem 12. Januar 1930 wurde ich in Düren geboren. Mein Gewicht von 4,5 Pfund gab Anlass zur Sorge. Eine Tante war sogar der Meinung, dass ich schwerlich überleben würde. Ich war, wenn man so will, schon “abgeschrieben“. Die medizinische Versorgung der damaligen Zeit ist mit der heutigen in keiner Weise zu vergleichen. Nicht umsonst waren auf den Friedhöfen die Gräberfelder der Kinder mit ihren weißen Kreuzen an Größe nicht zu überbieten.
Ich aber habe es allen bewiesen, auch Dank der Fürsorge meiner Eltern, und habe im Leben meinen “Mann“ gestanden.
Wenn ich so zurückdenke, muss ich eingestehen, dass ich eine schöne Kinder- und Jugendzeit hatte. In Vettweiß, meinem Heimatort, besuchte ich den Kath. Kindergarten, welcher von den Ordensschwestern geleitet wurde. Ich will nicht verhehlen, dass ich kein braves Kind war, sondern, nach Aussagen meiner Eltern, oftmals ein Benehmen an den Tag legte, das eher einem Jungen zuzuschreiben war.
Mit 6 Jahren war Einschulung in die Volksschule am Markt mit der sehr strengen Lehrerin Frau Mang. Nicht weniger streng war Herr Lehrer Capellmann.
Dann der 1. September 1939. Von unserem Unterrichtsraum aus hatten wir Schüler Ausblick auf den Marktplatz. Es bot sich ein seltsames Bild. Männer und Frauen hatten sich in großer Zahl dort versammelt und diskutierten. Wir Kinder erfuhren den Grund später zu Hause.
Der 2. Weltkrieg war ausgebrochen.
Schon Jahre vorher blieb selbst mir als Kind der Hass auf die Juden nicht verborgen. Schräg gegenüber unserem Wohnhaus (heute Gereonstrasse 28) befand sich das Haus der jüdischen Familie von Salomon Sommer (heute Küchengasse 4). Von Beruf war Salomon Sommer Kleintierhändler. Er war im Besitz einer großen Schafherde.
Wegen seiner Tapferkeit war ihm im ersten Weltkrieg das EK I verliehen worden.
Der Umgang mit jüdischen Einwohnern wurde immer gefährlicher, die Nazi-Schergen hatten ihre Augen und Ohren überall, ja, sie brüsteten sich damit, Fensterscheiben am Wohnhaus der Familie Sommer eingeworfen zu haben.
Die Partei und die SA Leute animierten uns mit Steinen nach den “Jüdde-Kenge“ zu werfen.
Die Schafherde der Familie Sommer wurde enteignet und der neugegründeten Genossenschaftsherde von Vettweiß zugeordnet. Lediglich die Betreuung seiner Herde verblieb ihm noch.
Die Versorgung der Bevölkerung wurde eingeschränkt. Der Kauf per Lebensmittelmarken eingeführt. Die für die Juden zu beziehenden Lebensmittel wurden reglementiert, sie wurden halbiert. Zudem durften sie nur in für sie bestimmten Geschäften und zu bestimmten Zeiten einkaufen. Hilfe für notleidende Juden war strengstens untersagt.
Das hielt meine Eltern nicht davon ab, die Familie Sommer mit Essen zu versorgen. Jede Nacht ließ mein Vater einen Essenskorb über eine Nachbarschaftsmauer, um deren schweres Schicksal ein wenig zu erleichtern.
Der Hass auf die Juden ging weiter. Vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Synagoge in Vettweiß zerstört. Zu Hause bekam ich mit, wie meine Eltern über die Tat sprachen und wir Kinder die Zerstörungswut Vettweißer S.A. Leute Tage später in Augenschein nehmen konnten.
Es folgte der Tag, an dem die Familie Sommer zur Deportation durch die Vettweißer SA-Leute abgeholt werden sollte. Herr Sommer trat ihnen mit angehefteter Kriegsauszeichnung aus dem 1. Weltkrieg entgegen. Die SA-Leute sahen von einer Festnahme ab. Wenige Tage später erschienen sie erneut. Diesmal half das EK I nicht mehr. Die Familie Sommer wurde festgenommen, abgeführt und in den Tod deportiert.
Mein Onkel Josef Ohrem war Priester. Selbst vor Priestern und Ordensleuten machten die Schergen nicht halt. Onkel Josef gelang auf abenteuerliche Art die Flucht nach Argentinien, wo er in Buenos Aires und später in Cordoba im Salesianer Orden Don Bosco priesterlich tätig war, und wo er in Anerkennung um seine Verdienste mit eindrucksvoller Begräbnis-Zeremonie bestattet wurde. Er hatte das große Glück, dass ihn eine Frau im Beichtstuhl von der bevorstehenden Verhaftung durch die Gestapo warnte und er vor dem geplanten “Zugriff“ unauffindbar war.
Der Krieg war, wie bereits erwähnt, in “vollem Gang“. Doch je länger er andauerte, desto schlechter wurden die Botschaften. Viele Gefallene waren zu beklagen. Jeden Tag konnte der Postbote kommen, um die Nachricht von weiteren gefallenen Vettweißer Jungs zu überbringen. Man wusste ja nie, was und wer als nächstes folgen würde. Die Angst, so sagten meine Eltern wäre in fast jedem Hause greifbar. Im November 1944 wurden drei meiner Mitschüler bei einem Artillerie Beschuss durch die Amerikaner im Dreiländereck von Deutschland, Belgien und Holland getötet.
Das 5. Kriegsjahr neigte sich dem Ende zu, die amerikanische Armee rückte stetig näher. Viele Nächte verbrachten wir im Keller, wenn die fast täglich anfliegenden Bomberverbände auf dem Weg ins deutsche Hinterland durch Sirenengeheul angekündigt wurden, und die Städte wie Köln in Schutt und Asche legten.
Oftmals versammelten sich Leute in der Dunkelheit “henge de Ööfte“ (heute Ulmenweg), um das “Schauspiel“ der Suchscheinwerfer von den vielen Flakstellungen zu “bewundern“, die derart den Himmel nach feindlichen Flugzeugen absuchten. So stürzte dann auch in der Nacht des 4. November 1944 in der Nähe von Kettenheim ein von der Flak getroffenes englisches Flugzeug ab, wobei keiner der sieben Besatzungsmitglieder überlebte.
Den Erzählungen, mit späterer Bestätigung, war zu entnehmen, dass die ersten aber unbekannten Personen, die sich an der Absturzstelle eingefunden hatten, die toten Besatzungsmitglieder teilweise entkleidet hatten. Einfach pietätlos, wie ich finde, auch in Kriegszeiten.
Anmerkung des HGV: Vor wenigen Wochen wurde uns dieses Verhalten durch einen Zeitzeugen aus einem anderen Ort bestätigt.
Düren wurde bombardiert und Tage später, am 30. November 1944, Vettweiß, mit fast 70 Toten, darunter meine Cousine Christel Dortu, 3 Jahre alt. Sie starb an den Verletzungen, die sie sich bei der Bombardierung durch großen und starken Luftsog zugezogen hatte. Am nächsten Tag wurde ein großer Feldwagen hergerichtet und, nach der Beerdigung von Christel, mit Pferdegespann auf in die Evakuierung.
Mit dem Nötigsten beladen, hatten neben meinem Vater noch die Oma, Tante Lena Dortu mit 3 Kindern, sowie meine hochschwangere Mutter mit 4 Kindern (neben mir meine Brüder Wilfried, Helmut sowie Schwester Marlene) “Platz genommen“. Die Fahrt endete im Bergischen Land, in Much. Es dauerte nicht mehr lange, da hat meine Mutter entbunden. Bis ins Krankenhaus schaffte sie es nicht mehr ganz. Noch auf den Treppenstufen zum Krankenhaus kam Bruder Hubert im Schnee auf die Welt.
Die Zeit zog sich hin, bis wir dann eines Tages die genehmigte Rückkehr durch die amerikanischen Besatzer, oder besser gesagt Befreier nach Vettweiß antraten. Was unvergessen bleibt, ist die Tatsache, dass die amerikanischen Soldaten, und hier vor allem die Schwarzamerikaner, uns immer mit Schokolade und anderen Süßigkeiten versorgten, was ihnen und uns Kindern immer zur Freude gereichte.
Wieder zu Hause, war Aufräumen an der Tagesordnung, wobei auch die Hilfe der Kinder angesagt war.
Im Alter von 14 Jahren endete dann für mich die Schulzeit. Einige Zeit später absolvierte ich in Süchteln in der Orthopädischen Landes-Kinderklinik eine dreijährige Lehre mit anschließender Weiterbeschäftigung. Durch eine beginnende Krankheit meiner Mutter musste ich die Arbeitsstelle aufgeben, ich war ab nun zu Hause “gefordert“.
Mit 26 Jahren heiratete ich Willi Wüffel und war mit ihm 54 Jahre verheiratet.
Im Jahre 1995 erkrankte meine Mutter derart, dass sie ohne Pflege nicht mehr auskam, und 9 Jahre ans Bett gefesselt war, ohne ein Wort über die gesamte Zeit zu sprechen. Sie verstarb im Jahre 2004.
Mein Vater war bereits 1957 verstorben.
Ebenso sind alle meine Geschwister Winfried, Marlene, Helmut und Hubert, alle jünger als ich, bereits verstorben.
Und noch ein Schicksalsschlag traf die Familie, als unser Sohn und Bruder Reinhard am 17. April 2004, wenige Wochen nach dem Tod meiner Mutter, tödlich verunglückte.
Bei allem Leid, das die Familie zu ertragen hatte, sollen die schönen Tage, Wochen und Jahre, die wir zusammen verlebt haben, nicht vergessen bleiben, und ich danke meiner Tochter Andrea, dass sie mir an Gutem gibt, welches ich meiner Familie im Stande war zu geben.
Irmgard Wüffel beim Historischen Festzug anlässlich der 375 Jahrfeier der Anna-Kirmes am 28.07.2013 in Düren.