Marlene Spilles
Seit früher Jugend bewegte mich die Ungewissheit über das Schicksal meines im zweiten Weltkrieg vermissten Onkel Martin Engels.
Johann Martin Engels, Jahrgang 1910, war das älteste von sechs Kindern meiner Großeltern Wilhelm und Helene Engels geb. Tollmann.
Zusammen mit seinen Schwestern Christine (verheiratete Gey), Gertrud (verh. Kallscheuer), Lisa (verh. Gartzen), Maria (verh. Utzen / Cloubert), sowie seinem Bruder Josef wuchs er in Vettweiß auf.
Ich möchte anmerken, dass sich das Elternhaus meiner Großmutter an der Dreifaltigkeitskapelle befand.
Hier wurde sie im Jahre 1881 geboren und von hier aus machte sie sich 2 Jahre lang auf den ausgedehnten, täglichen Fußmarsch zur Schule nach Vettweiß auf. Als sie ihr 2. Schuljahr absolviert hatte, zog die Familie Tollmann 1889 nach Vettweiß um.
Als Kuriosum sei noch vermerkt, dass die Wohn- und Wirtschaftsgebäude rund um die Kapelle durch Bombenabwürfe im Krieg allesamt zerstört wurden, die Kapelle aber gänzlich unbeschadet blieb.
Die Schulzeit von Martin Engels endete im April 1925. Danach trat er eine Stellung in der Landwirtschaft bei der Familie Erasmi (heute Kreifelts) an.
Militärdienst
Ab 1936 absolvierte er die Militärausbildung. Die allgemeine Wehrpflicht war 1935 durch die Nationalsozialisten wieder eingeführt worden.
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, im September 1939, wurde er zum Kriegsdienst einberufen.
Mitte des Jahres 1944 erlitt er seine erste Verletzung, die aber von einer derartigen Schwere war, dass sie einen monatelangen Lazarettaufenthalt nahe Königsberg (heute Kaliningrad / Russland) erforderte.
Am 1. November 1944 wurde Martin als halbwegs gesund entlassen und zu seiner Einheit bei Allenstein zurückbeordert.
In einem Brief, es sollte sein letztes Lebenszeichen sein, vom 10. Januar 1945 teilt er seiner Familie mit, dass er ziemlich gesund sei, was er auch von seinen Lieben daheim erhoffe.
Er geht in diesem Brief auch auf den Luftangriff auf Vettweiß vom 30. Nov. 1944 ein, über den ihm seine Eltern mit Schreiben vom 17. Dez. 1944 berichtet hatten.
Er drückt den Hinterbliebenen der vielen Opfer sein herzlichstes Beileid aus, verbunden mit der Hoffnung auf ein baldiges und gesundes Kriegsende und einem glücklichen Wiedersehen.
Noch bevor der Brief seine Eltern erreichte, hat ihn sicherlich der Tod ereilt.
Diesen Brief habe ich vor zwei Jahren von meinem Onkel Josef, Martins Bruder, geerbt. Ich komme nicht umhin, mir den Brief an seinem Geburts- wie Namenstag immer zu Gemüte zu führen, wobei ich mich stets einem Druck ungeweinter Tränen ausgesetzt fühle.
Vom 13. Januar bis zum 25. April 1945 fand die längste und blutigste Offensive des Zweiten Weltkrieges statt.
Über 1,6 Millionen Soldaten der Roten Armee kämpften im Osten gegen 600 000 Deutsche an.
Die deutschen Divisionen wurden fast vollständig vernichtet. Auf Seiten der Russen fanden über 130 000 Soldaten den Tod.
Diesem Inferno erlagen auch die deutschen Truppen in Ostpreußen.
Die Zeit der Ungewissheit
Der furchtbare Krieg endete endlich am 8. Mai 1945. In fast allen Familien begann eine Zeit des Wartens. Ein Warten auf Ehemänner, Söhne, Freunde und Bekannte, ein Warten zwischen Hoffen und Bangen.
Bald wurden die ersten Soldaten aus der Gefangenschaft entlassen und kehrten heim. Dies war immer eine seltsame Mischung aus Erleichterung für die einen, und Besorgnis für die anderen.
So machte sich auch Erleichterung in der Familie Engels breit, als Martins Bruder Josef heimkehrte. Für ihn endete der Krieg vorzeitig in Italien. Josef hatte das Glück, wenn man es so nennen darf, er landete in amerikanischer Gefangenschaft.
Die Zeit verging. Von Onkel Martin gab es vor wie nach kein Lebenszeichen. Martin galt als verschollen, er galt als vermißt, die Hoffnung auf ein Wiedersehen tendierte mit fortschreitender Zeit gegen Null.
Diesen Umstand wollten meine Großeltern nie akzeptieren. Sie glaubten fest ihren Sohn Martin wiederzusehen. Sie klammerten sich daran, dass ihrem Sohn Josef die Rückkehr auch geglückt sei.
Wenn die Heimkehrertransporte mit ehemaligen deutschen Soldaten im Durchgangslager Friedland ankamen, und die Namen der Ankommenden im Radio verlesen wurden, dann hat meine Großmutter die ganze Zeit mit Spannung und Erwartung zugehört. Doch leider wurde sie immer wieder enttäuscht.
Bis zu ihrem Tod im Jahre 1970, Großvater war bereits 1947 verstorben, hat sie die Hoffnung nie aufgegeben, selbst dann nicht, als Johann Martin Engels im Jahre 1966 amtlich für tot erklärt wurde.
Auch ich wollte die Nachricht, dass mein Onkel verschollen sei, nicht so einfach hinnehmen.
Keinen Totenzettel, keinen Nachruf, keine Gelegenheit zum Abschied nehmen oder zum Gedenken. Einfach nichts. Nein, das durfte es doch nicht sein.
Ich fühlte mich meiner Großmutter gegenüber verpflichtet, und übernahm nun die Aufgabe um mögliche Aufklärung.
Wie viele Briefe sie und ihr Sohn Josef in all den Jahren an das Deutsche Rote Kreuz und an den Volksbund Deutscher Kriegsgräber geschrieben haben, ist mir unbekannt. Bekannt ist aber, es war eine nicht geringe Anzahl.
Ich bemühte mich nun weiter bei den angeführten Institutionen.
Ein derartiges Ende wollte auch ich nicht akzeptieren, wobei ich die Hoffnung hatte, und oftmals auch der festen Überzeugung war, dass die Geschichte so nicht enden würde.
Nachricht aus Berlin
Im November 2013, ich traute meinen Augen nicht, erreichte mich ein Brief des Volksbundes Deutscher Kriegsgräber.
In einem Feldgrab in der Gemarkung Silec im Bezirk Olsztyn (Polen) seien die sterblichen Überreste eines deutschen Soldaten gefunden worden, denen eine Erkennungsmarke beigelegen habe.
An Hand dieser Erkennungsmarke sei zweifelsfrei festgestellt worden, dass es sich um die sterblichen Überreste von Johann Martin Engels, geb. am 25. Juni 1910 in Vettweiß, handele.
Die sterblichen Überreste, seien nun auf dem Soldatenfriedhof von Bartosze (Polen) zur letzten Ruhe gebettet worden.
Gewissheit
Ich mußte einen Moment innehalten und in Stille verharren. In meinen Augen standen Tränen.
All die Mühen hatten sich gelohnt und ich glaube sagen zu dürfen, dass nach all den Jahren meinen verstorbenen Großeltern und den Geschwistern meines Onkels eine gewisse Genugtuung widerfahren ist.
Zu meiner überaus großen Freude erreichte mich im Juni 2014 ein Schreiben der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, beigefügt die Erkennungsmarke von Johann Martin Engels.
Nun besteht endgültige Gewissheit über das Schicksal meines Onkel Martin, dem ich gerne noch ein persönliches Lebewohl sagen möchte.
Wo ? Auf dem Soldatenfriedhof von Bartosze.